Hunter S. Thompson beging Selbstmord

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Bernie
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Hunter S. Thompson beging Selbstmord

Beitrag von Bernie »

Gonzos Abschied

Ein Verrückter, ein Genie, ein Waffennarr: Hunter S. Thompson revolutionierte den amerikanischen Journalismus und wurde mit brillanten Texten zum Chronisten der Gegenkultur. Der Mann, der sich selbst Dr. Gonzo nannte, probierte jede Droge und jeden Exzess - gegen seine nagenden Selbstzweifel half es nicht.

Dass er nicht im Bett sterben würde, war vorauszusehen, weil er im Gegensatz zu den meisten Menschen sein Bett nie besonders mochte. Hunter Stockton Thompson blieb meist wach, bis das Morgenlicht in die Küche seines Holzhauses in Woody Creek, Colorado, kroch, und er mit Hilfe seiner Schreibmaschine, einer Flasche Chivas Regal und ein paar Linien Kokain eine weitere Nacht besiegt hatte. Erst dann fand er für ein paar Stunden Schlaf, manchmal sogar in seinem Bett.

Viel lieber als sein Bett mochte der "beste Schriftsteller unter Amerikas Journalisten und der beste Journalist unter den Schriftstellern" ("Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung") alles, was mit Geschwindigkeit zu tun hatte. Drogen und Alkohol fielen darunter, natürlich. Motorräder und Waffen ebenfalls. Aber Thompson verbrannte nicht bloß Energie, er produzierte selbst welche, weil er fand, dass Sätze dahinbrummen müssten wie eine Harley Davidson und dass Pointen einschlagen sollten wie Kugeln aus einer seiner geliebten 45er Magnums. Nur so, fand der selbst ernannte Outlaw, könne er der immer monströser werdenden amerikanischen Wirklichkeit zum Duell gegenübertreten.

"Ich muss mich massiv zuknallen"

Aber seine Kraft und Disziplin ließen nach, immer mehr. Und die Worte, die er mehr liebte als alle Drogen und Waffen, kamen am Ende nur noch wie versprengte Gäste, die an eine vernagelte Hoteltür hämmern. Es muss ein geistesbetäubendes Pochen gewesen sein, manchmal. Vermutlich hat sich Hunter S. Thompson deshalb in der Nacht zum Sonntag in seinem Haus erschossen.

Ich habe ihn eine Nacht lang beim Schreiben erlebt in seiner Küche im letzten Herbst. Es war Montagabend, im Fernsehen lief Football, und Thompson wettete auf seinen Lieblingsclub, die Indianapolis Colts. Freunde waren da, Partystimmung. Aber so gegen Mitternacht wusste Thompson, dass es kein Entkommen mehr gab und stellte seine IBM Wheelwriter 1600 auf die Küchentheke. Um fünf Uhr früh war Deadline für seine Kolumne. "Okay", sagte Thompson mit seinem typischen, sardonischen Lachen. "Es gibt nur einen Weg, das zu schaffen: Ich muss mich massiv zuknallen." Neben Koks und Whiskey halfen ihm in dieser Schreibnacht zwei sehr blonde Frauen Mitte Zwanzig, die mit Notizblöcken um ihn herumsaßen, jedes seiner Worte einfangend. Um fünf Minuten vor Fünf war die Kolumne fertig. "Nein, schickt sie nicht ab", sagte Thompson, "sie taugt nichts."

Außenseiter mit Selbstzweifeln

Es waren gewaltige Selbstzweifel wie in jener Nacht, die Thompson sein Leben lang quälten - und die ihn gleichzeitig antrieben zu seinem supersubjektiven Hochgeschwindigkeitsstil, welcher unter dem Namen "Gonzo" den amerikanischen Journalismus revolutionieren sollte. "Gonzo" - die einen sagten, es sei ein anderes Wort für "verrückt", die anderen meinten, es heiße so viel wie "letzter Mann, der nach einer durchzechten Nacht an der Theke stehen bleibt".

Wahrscheinlich war Gonzo auch ein neues Wort für Ambition und Leidenschaft, denn Thompson wollte hoch hinaus, von Anfang an. Mit zehn Jahren gab der Sohn einer hoch gebildeten Südstaatenfamilie seine erste Zeitung heraus; mit Anfang Zwanzig trat er den Süßigkeitsautomaten einer Provinzzeitung zusammen und verabschiedete sich damit für immer vom traditionellen Journalismus. Nachts tippte er Bücher von Hemingway oder F. Scott Fitzgerald ab, dazu Briefe an seine Freunde mit fünffachem Durchschlag. 20.000 Stück sollten es am Ende sein.

Es nützte nichts, er blieb ein Außenseiter. Aber Anfang der Sechziger gab es immer mehr Typen wie ihn, und er wurde zum besten Chronisten dessen, was später einmal Gegenkultur heißen sollte: Er fuhr mit den Hell's Angels, schrieb "Fear and Loathing in Las Vegas", half schließlich, Richard Nixon aus dem Amt zu jagen. Den Jahrhundertboxkampf Muhammad Ali gegen George Foreman im Dschungel von Zaïre versäumte er, weil er neben einem leeren Cannabis-Beutel in einem Hotel-Swimmingpool trieb. Natürlich ließ das sein Image als Rockstar der Schreiber noch ein wenig mehr strahlen.

Ein echter Cowboy

Seine Bücher und die Filmrechte zu "Fear and Loathing in Las Vegas" brachten ihm Millionen, aber Geld gehörte nie zu den Drogen, welche Thompson einen echten Kick gaben. Als ich ihn besuchte, im letzten Herbst, war er ziemlich fassungslos, dass es George W. Bush zum zweiten Mal geschafft hatte, Präsident zu werden. Aber Thompson, der sich im Gegensatz zu dem texanischen Westernhutträger als echter Cowboy empfand, war auch kämpferischer Stimmung. Zwei Jahre zuvor hatte er eine Rückenoperation überstanden, ein Jahr danach einen Beinbruch. Beide Male musste er monatelang das Laufen neu lernen.

"If they take the fun out of life, I'll leave" - Wenn sie mir den Spaß am Leben nehmen, dann gehe ich -, hat Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stones und einer der besten Freunde von Thompson, einmal gesagt.

Es wird wohl irgend so etwas in dieser Richtung gewesen sein, was ihm durch den Kopf ging, als Hunter Stockton Thompson seine 45er Magnum von der Küchentheke nahm, auf 2600 Metern Höhe in den Rocky Mountains, und beschloss, dass es jetzt besser sei, wenn es nun für immer Nacht bleibt.

spiegel.de

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"There he goes. One of God's own prototypes. Some kind of high powered mutant never even considered for mass production. Too weird to live, and too rare to die."
erik

Beitrag von erik »

gonzo

Im Rausch der Wahrheit

Man müsste sich eine chemische Keule besorgen, eins von diesen praktischen kleinen Sprays, und jeden, der einem dumm kommt, sofort niedersprühen. Man müsste eine Waffe nehmen, irgendeine große Faustfeuerwaffe, eine Magnum vielleicht, und rausgehen in die menschenleere Nacht und sie abfeuern, dreimal hintereinander. Man müsste sich ein Auto mieten, unter falschem Namen selbstverständlich oder mit einer abgelaufenen Kreditkarte, ein schnelles Auto, ein Cabrio, und einfach losfahren, voll auf Droge, in die Wüste, ihm zu Ehren.

Hunter S. Thompson ist tot. Am Sonntagnachmittag, so teilte es sein Sohn Juan mit, habe sich der Journalist und Schriftsteller selbst in den Kopf geschossen. Es ist dies ein konsequentes, ein würdiges Ende eines konsequenten, würdigen Mannes. Nicht dass man diesen Hunter Stockton Thompson, diesen renitenten Waffennarr, Alkohol- und Drogenkonsumenten, gerne zum Nachbarn gehabt hätte. Zum Freund. Oder auch nur zum Kollegen. Es wäre wohl die Hölle gewesen, angewiesen zu sein auf einen, der den simplen Auftrag für die Erstellung einer Reportage als Einladung zu einem redaktionell finanzierten Komplettabsturz begriff.

Aber es war und ist ein Vergnügen und ein Genuss, seine Texte zu lesen. Thompson kämpfte gegen das Establishment, gegen die große Lüge des amerikanischen Traums. Nicht nur indem er gegen Nixon, Reagan und die Bushs schrieb - er kämpfte auch immer gegen sich selbst und gegen seinen Berufsstand. Als Erster rückte er die eigene Person in den Mittelpunkt seiner Geschichten: einen offensichtlich Irren auf der Suche nach der Wahrheit. Auf diese radikal subjektive Weise, durch ständiges Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Subjekten seiner scharfen Beobachtung und ohne sich jemals über dieselben zu stellen, zog er den Zorn der seriösen Vertreter seiner Zunft auf sich - und bereicherte die Publizistik um ein neues Genre: den Gonzo-Journalismus.

Den Gonzo-Journalismus erfand Thompson, als er, komplett zerstört von seiner teilnehmenden Beobachtung, für das Scanlans magazine eine Geschichte über das "Kentucky Derby" abliefern sollte, vordergründig Pferderennen, eigentlich kollektiver Rausch. Thompson war nicht in der Lage, den Text fertig zu stellen. Also riss er einfach Seiten aus seinem Notizbuch und schickte diese an die Redaktion. Er glaubte nicht daran, danach jemals wieder einen Auftrag zu bekommen, erzählte er Jahre später dem Playboy. Tatsächlich wurde er gefeiert.

Es gibt viele irrsinnige Geschichten über Thompson zu erzählen, 67Jahre alt geworden, geboren in Louisville, Kentucky, am 18. Juli 1937, gestorben am 20. Februar 2005 in Woody Creek, Colorado. Die besten hat er selbst aufgeschrieben.

Als Ihr Anwalt rate ich Ihnen: Lesen Sie Hunter S. Thompsons Buch über die "Hells Angels". Und seine Geschichte "The Kentucky Derby is Decadent and Depraved". Danach, das ist sicher, wollen Sie mehr.

STEFAN KUZMANY

taz Nr. 7597 vom 22.2.2005, Seite 5, 89 Zeilen (Portrait), STEFAN KUZMANY


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erik

Beitrag von erik »

Death of a poet
VON HUNTER S. THOMPSON

Es war dunkel, als wir in Green Bay landeten, und der Flughafen war wie ein Friedhof. Die ganze Stadt stand unter Schock, nachdem die Kansas City Chiefs den hiesigen Packers am selben Tag eine vernichtende Niederlage beigebracht hatten … Ihr Selbstvertrauen war zerstört, Magic Man hatte versagt, Mighty Casey keinen Schlag gelandet.

Das Avis-Mädchen heulte unkontrolliert in seiner Kabine, als ich am Schalter ankam. Mein Herz hüpfte vor Freude, aber ich konnte mich ihr nicht verständlich machen. Sie hatte ihre Lebensfreude verloren.

"Nehmen Sie sich irgendein Auto", sagte sie. "Mir egal, welches. Alles ist egal. Montag zieh ich nach Milwaukee."

"Wen interessierts?", sagte ich. "Geben Sie mir einen verdammten Schlüssel."

Sie kam nicht in die Gänge, also ließ ich sie meine Faust spüren, und sie ging in die Knie.

"Ich hab noch mehr davon, wenns sein muss", sagte ich ihr. Dann nahm ich mir einen Schlüsselbund vom Haken und hastete nach draußen, um mir ein Auto zu suchen. Ich hatte es eilig, zu Leach zu kommen, um mit ihm unseren großen Sieg zu feiern.

Die Adresse, die er mir gegeben hatte, stellte sich als Wohnwagensiedlung hinter den Schlachthöfen heraus. Er öffnete mir in einem schmutzigen, rindsledernen Bademantel die Tür. Seine Augen waren gerötet, seine Hände zitterten. In der Hand hielt er eine Zweiliterflasche Wild Turkey.

"Du kommst genau richtig", sagte er. "Ich wollte mir eben die Pulsadern aufschneiden. Das ist der schlimmste Tag meines Lebens."

"Unsinn", sagte ich. "Wir haben gewonnen. Ich hab genauso gewettet wie du. Deine Nummern. Du hast sogar vorausgesagt, dass Kansas City den Packers den Arsch versohlen würde."

F.X. verkrampfte sich, dann warf er den Kopf nach hinten und stieß einen hohen, bebenden Schrei aus. Ich packte ihn. "Reiß dich zusammen", schnauzte ich los. "Was ist denn?"

"Ich hab meinen Verstand verloren", sagte er. "Ich hab mich betrunken und meine Wette geändert. Und anschließend den Einsatz verdoppelt."

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

"Was!", sagte ich. "Du hast auf die Packers gesetzt? Was ist passiert?"

"Ich bin mit ein paar Jungs aus dem Laden zu dieser großen Packers-Promo-Sause gegangen", sagte er. "Wir haben Schnaps getrunken und rumgebrüllt, und ich hab meinen Kopf verloren … Es war unmöglich, gegen die Packers zu wetten in der Atmosphäre."

Richtig. Leach war ein schlimmer Säufer, und er war süchtig nach Massenhysterie.

"Sie bringen mich um", sagte er. "Um Mitternacht sind sie hier. Ich bin erledigt."

Er ließ noch ein leises Heulen hören und langte nach der Flasche Wild Turkey, die umgefallen und ausgelaufen war.

"Warte", sagte ich. "Ich hol ne neue."

Auf dem Weg in die Küche wurde ich vom Anblick einer nackten Frau aufgeschreckt, die komisch zusammengesackt und mit einem verzweifelten Ausdruck in der Ecke saß, als wäre sie erschossen worden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen, und sie schien ihre Arme nach mir auszustrecken. Ich machte einen Satz nach hinten und hörte Gelächter in meinen Rücken. Mein erster Gedanke war, dass Leach nach dem Desaster mit der Wette endgültig durchgedreht war und seine Frau nicht mehr nur verprügelt, sondern ihr, unmittelbar bevor ich kam, eine Kugel durch den Mund gejagt hatte.

Sie schien nach Hilfe zu schreien, aber sie hatte keine Stimme. Ich rannte in die Küche und suchte nach einem Messer - wenn Leach so weit gegangen war, seine Frau zu erschießen, dann würde er mich, als einzigen Zeugen, ebenfalls erschießen müssen.

Plötzlich stand er in der Tür, hielt die nackte Frau am Hals und schleuderte sie quer durch die Küche in meine Richtung … … Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Die Frau schien in der Luft zu verharren und bewegte sich in der Dunkelheit wie in Zeitlupe auf mich zu. Ich nahm das Brotmesser, ging in Abwehrhaltung und bereitete mich auf einen Kampf vor. Dann traf mich das Ding, prallte sanft von mir ab und glitt zu Boden.

Es war eine aufblasbare Gummipuppe, eines dieser Dinger mit fünf Löchern, wie sie junge Börsenmakler in Sexshops kaufen, wenn die Single-Bars schließen.

"Darf ich vorstellen: Jennifer", sagte er. "Mein Sandsack."

Er griff die Puppe bei den Haaren und schleuderte sie gegen die Wand. "Ho, ho", kicherte er. "Nichts mehr mit Frau verprügeln. Ich bin geheilt, dank Jennifer." Er grinste verlegen. "Es ist wie ein Wunder. Diese Puppen haben meine Ehe gerettet. Sie sind viel intelligenter, als man denkt." Er nickte ernst.

"Manchmal muss ich zwei auf einmal verprügeln, aber es funktioniert immer - es beruhigt mich, verstehst du?"

Oje, dachte ich. Willkommen im Abgrund. "Aber klar doch", sagte ich schnell. "Wie sehen das die Nachbarn?"

"Da gibt es keine Probleme", sagte er. "Die mögen mich."

Mit Sicherheit, dachte ich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie man seine Familie vor einem Dachschaden bewahrte, wenn man auf einem schlammigen Industriegelände voller Blechwohnwagen zu Hause war und beim Blick aus dem Küchenfenster einem Mann in einem ledernen Bademantel dabei zusehen konnte, wie er mit einer Literflasche Wild Turkey in der Hand zwei nackte Frauen durchs Zimmer prügelte, auch mal zwei oder drei Stunden lang, wenns sein musste … Ein Albtraum.

"Wie gehts deiner Frau?", fragte ich. "Wohnt sie noch hier?"

"Ja, ja", sagte er schnell. "Sie ist nur eben Zigaretten holen. Sie muss gleich wieder da sein." Er nickte eifrig. "Sie ist so was von stolz auf mich, oh ja. Wir haben uns so gut wie versöhnt. Sie liebt diese Puppen."

Ich lächelte, aber irgendwas an dieser Geschichte machte mich nervös.

"Wie viele davon hast du denn?", fragte ich ihn.

"Keine Sorge", sagte er. "Ich hab alles da, was wir brauchen."

Er griff in eine Besenkammer und zog eine zweite heraus, eine halb aufgeblasene, chinesisch aussehende Frau mit Ringen in den Brustwarzen und zwei Kabeln am Kopf. "Das ist Ling-Ling", sagte er. "Sie schreit, wenn ich sie schlage."

Er boxte der Puppe ins Gesicht, und sie jammerte dümmlich. In dem Augenblick fielen draußen Autotüren zu; es klopfte laut an der Tür, und eine schroffe Stimme brüllte, "Polizei! Aufmachen!"

Leach zog eine 44er-Magnum aus einem Schulterhalfter unter seinem Bademantel hervor und gab zwei Schüsse auf die Tür ab. "Verdammte Schlampe", schrie er. "Hätte ich dich längst umgebracht!" Er gab zwei weitere Schüsse ab und lachte leise.

Dann wendete er sich mir zu und steckte sich den Lauf der Pistole in den Mund. Für einen Moment, in dem er mir direkt in die Augen blickte, zögerte er. Dann drückte er ab und ballerte sich den Hinterkopf weg.


Übersetzung des bisher noch nicht auf Deutsch vorliegenden Textes: Karsten Kredel
taz Nr. 7597 vom 22.2.2005, Seite 5, 195 Zeilen (Dokumentation), HUNTER S. THOMPSON


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